Gespräche über den Tod

Mein Kater Salem (Oktober 2015)

In den zurückliegenden Wochen ging es Salem zunehmend schlechter. Einige Zeit haben wir ihn mit vielen Medikamenten und regelmäßigen Infusionen versucht „zu retten“, doch da er darauf allmählich mit immer mehr Angst und Abwehr reagierte, stellten wir dies vor etwa 6 Wochen ganz ein. Dadurch ging es ihm kurzzeitig wieder etwas besser, vor allen Dingen verlor sich aber seine Angst. Nur das Fressen blieb unverändert schlecht. Er nahm kontinuierlich ab und schien auch nicht gewillt, egal was wir taten, wieder mehr zu sich zu nehmen. Cheffe (mein Geistführer) sagte mir vor ein paar Wochen, dass wir aufhören sollten mit dem Futter zu experimentieren, was wir dann auch versuchten durchzuhalten.
Trotzdem wurde Salem immer schwächer und so habe ich mich am Sonntagabend auf die mentale Reise gemacht, jemand zu finden, der ihm vielleicht helfen könnte. Ich flog sehr weit nach oben und stand plötzlich in einer Welt voller Tiere, alles war grün und harmonisch. Die ganze Welt schien in sich verbunden. Im Zentrum stand eine große Gestalt, die ganz offensichtlich eine Art „Chef-Rolle“ hatte. Die Gestalt ist schwer zu beschreiben. Sie war eine Mischung aus Baum, Mensch und Tier. Sie hatte ein Gesicht, hatte aber auch irgendwie eine Löwenmähne. Besonders auffällig waren ihre Arme, von denen sie so viele hatte, dass ich sie nicht zählen konnte. Diese waren auch die ganze Zeit in Bewegung. Ich spürte, dass sie nicht gerade auf mich gewartet hatte und mich eher missgünstig beäugte. Um die Gelegenheit nicht zu verpassen erklärte ich ihr kurzerhand, dass ich einen Kater zu Hause habe, dem es sehr schlecht geht und fragte sie, ob sie ihm helfen könne. Ohne lang zu zögern sagte sie zu mitzukommen und ihn sich anzusehen. Sie kam daraufhin mit mir mit bis zu Salem, der gerade auf seiner Lieblingsdecke lag und kaum dass sie bei ihm war, schienen die vielen Arme anzufangen zu arbeiten. Danach holte mich erstmal wieder der Alltag ein.

Am nächsten Abend begann sich in mir ein starker Widerstand aufzubauen. Etwas bedrängte mich innerlich, ohne dass ich es einordnen konnte. Erst am darauffolgenden Tag realisierte ich, dass es die Gestalt war, die in meiner Verbindung zu Salem stand und mich heraus zu jagen schien. Es fühlte sich wie Feuer in meine Richtung an. Etwas in mir verstand aber komischerweise sofort, was sie von mir wollte. Es war nicht meine Verbindung, die sie störte, sondern der Druck den ich auf Salem über diese Verbindung unbewusst ausübte. Ich wollte dass er wieder frisst, dass es ihm wieder besser geht. Ich wollte ihn nicht verlieren.

Ich sollte sofort damit aufhören! Das verstand ich in dem Augenblick auch und zog mich unmittelbar aus der Verbindung zurück. Diese Veränderung erzeugte in mir eine große Traurigkeit. Ich glaube, ich realisierte in diesem Augenblick, dass ich nun nichts mehr für ihn tun konnte. Ab diesem Moment konnte ich die Gestalt viel besser sehen und sie sprach auch mit mir. Sie zeigte mir, dass ich mich auf meine Liebe zu Salem konzentrieren sollte und ihm diese auch jederzeit schicken könne, was ich von da ab so oft ich konnte machte. Dadurch verflog die Traurigkeit wieder und die Verbindung zu Salem wurde sogar noch stärker.

Am Dienstagabend passierte dann etwas Überraschendes. Mit einem Mal tauchte in mir ein Gefühl auf, dass ich handeln müsse. Dieses Gefühl kam aber nicht von mir selbst sondern von der Gestalt. Salem ging es immer noch sehr schlecht. Nach langem Ringen, Kartenlegen und Gesprächen mit Claudi verwarfen wir die Entscheidung, keine Medikamente mehr zu geben und ich verabreichte ihm schließlich ein Schmerzmittel, in der Hoffnung, dass ihm dies hilft.

Am Mittwoch-Morgen funktionierte ich dann überhaupt nicht richtig. Salem hatte kaum auf das Schmerzmittel angesprochen. Ich kam nicht in die Gänge, wollte mich noch etwas mit Salem befassen und dann auf Arbeit fahren. Da ich außerdem zum Kunden sollte, war Anzug-Pflicht. Als ich fast beim Bus war und feststellte, dass ich zwar den Anzug aber Turnschuhe anhatte, realisierte ich, dass dies nicht grundlos passiert war. Ich ging wieder nach Hause, um von da zu arbeiten, sagte den Kundentermin ab und bat die Tierärztin vorbei zu kommen. Diese kam gegen Mittag und gab Salem einige Dinge, die ihn Stärken und Stützen sollten.

Dennoch baute er rapide weiter ab, nachdem sie weg war. Am Abend konnte er nicht einmal mehr aufstehen und schrie sofort laut, wenn nicht Claudi oder ich bei ihm lag. Wir riefen schließlich den Tiernotdienst. Mittlerweile hatte Salem nicht mal mehr die Kraft zu schreien. Wir entschieden uns, sein Leiden zu beenden und er bekam von der Ärztin Spritzen, mit denen er ganz langsam einschlief. So konnten wir bei ihm sein und ihn bis zur letzten Sekunde begleiten. Salem hat uns schließlich verlassen, ganz friedlich sah er aus, ohne Angst und ohne Schmerzen.

Am späten Donnerstagabend wurde er zur Einäscherung abgeholt und wir hatten uns dazu entschlossen, seine Urne später in die Wohnung zu stellen. Als der Mann mit ihm verschwunden war, fühlte sich die Wohnung plötzlich ganz leer an. Ich versuchte ihn irgendwo mit meinem Gefühl aufzuspüren, aber da war nichts. Auch am Freitagmorgen hatte sich nichts daran geändert. Die Gestalt hatte mir noch versprochen, dass sie bei ihm bleiben würde und ihn später wieder zu uns bringt, was ich mir aber irgendwie nicht vorstellen konnte. Warum sollte er zurückkehren?

Mit diesem Grundgefühl kam ich am Freitagabend nach Hause. Ich hatte extra länger gearbeitet, weil ich mich vor der leeren Wohnung fürchtete. Doch als ich sie betrat, war mein Gefühl ein ganz anderes. Die Wohnung war voller Wärme und Liebe. Ich ordnete dieses Gefühl erstmal der Fußbodenheizung zu und meditierte etwas. Dabei sortierte sich das Gefühl nach und nach. Ich merkte, dass es ein starkes Leuchten war, welches sich genau auf mich richtete und aus dem Küchenbereich kam. Aber es war keine Katze, dass konnte ich beim besten Willen nicht unterbringen. Das Gefühl war so stark, dass ich einige Zeit brauchte, um es zulassen zu können. Erst allmählich bekam ich ein Bild und musste feststellen, dass es zwar Salem war, von dem das Gefühl ausging, aber er jetzt eine Menschengestalt hatte. Das war extrem verwirrend, zumal ich diese Gestalt vor einigen Wochen schon mal in einem Traum gesehen hatte. In diesem versuchte Salem durch eine Art Glastisch zu tauchen, dessen Tischplatte zwei Öffnungen hatte und etwas 30 cm Wasserhöhe beinhaltete. Als Salem da durchtauchte, kam er zwar noch mit dem Kopf bis zur anderen Öffnung, verwandelte sich dabei aber in einen Menschen. In genau diese Gestalt. Nachdem meine Verwirrung sich etwas gelegt hatte, stellte ich fest, dass ich nun mit ihm reden konnte. Was meine Erinnerung noch hergibt, versuche ich im Folgenden zusammen zu tragen.

Jens Bleibst Du jetzt bei uns?
Salem Ich werde noch eine kurze Zeit hier bleiben und dann gehen.
Jens Wirst Du wieder zu uns kommen?
Salem Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht wichtig für mich. Ich lege mich niemals fest. Ich möchte frei bleiben und mir keine Grenzen auferlegen. Wenn wir uns wiedersehen freue ich mich, wenn nicht wird es auch richtig sein.
Jens Wieso hast Du keine Katzengestalt mehr?
Salem Weil ich jetzt wieder frei bin und nicht mehr in der Rolle als Katze.
Jens Wirst Du irgendwann ein Mensch sein?
Salem Menschsein ist nichts für mich. Das ist mir zu anstrengend.
Jens Warst Du schon einmal einer?
Salem Ja.
Jens Was ist so schlimm daran?
Salem Als Mensch trägt man eine schwere Last. Das ist das Los, welches man zieht, wenn man Mensch sein will. Ich bin lieber eine Katze, frei und ohne große Verantwortung.
Jens Hast Du manchmal gedacht, wir haben nicht alle Tassen im Schrank, wenn Du uns beobachtetest?
Salem Nein! Tiere wissen um die Last, die ihr tragen müsst!
Jens Alle?
Salem Ja, ich glaube alle!
Jens Bist Du irgendwie böse auf mich? Ich habe mich ja nicht immer fair Dir gegenüber verhalten?
Salem Nein! Es war alles in Ordnung! Mach Dir keine Gedanken darüber!
Jens War es richtig Dich „gehen zu lassen“?
Salem In den letzten Tagen und Stunden wurde es immer dunkler und diese Dunkelheit hat mich hierher geführt. Eure Entscheidung führte nur dazu, dass die letzten Augenblicke noch einmal hell waren. Dafür bin ich Euch sehr dankbar. Es ist für mich etwas außergewöhnliches, nichts was ich erwarten würde. Als Katze ist man normaler Weise Einzelgänger, lebt immer auf gewisser Distanz zu seinen Menschen. Die Beziehung zu Euch war anders, etwas Besonderes.
Jens Wie ordnest Du meine damalige Trennung von meiner Frau ein? Du warst ja die ganze Zeit dabei?
Salem Du musstest gehen! Es gab keine Alternative dazu!
Salem Das ist der Unterschied zwischen Katze und Mensch. Obwohl es ganz einfach ist, ist es für Euch unglaublich schwer. Ihr seid eben Menschen. Wenn Du irgendwann hier stehst, wo ich gerade stehe, wirst Du verstehen was ich meine, denn wir sind gleich.
Jens Wie meinst Du das?
Salem Das ist wie in einer Schule. In der Hofpause sind alle Klassen zusammen auf dem Schulhof. Sie sind gleich. Erst wenn es in die Klassenzimmer zurückgeht, nehmen sie wieder verschiedene Türen. Die einen werden Menschen, die anderen Tiere.
Jens Heißt das, in der Welt dazwischen sind wir alle zusammen?
Salem Ja, da sind wir alle gleich!
Jens Sind Pflanzen da auch?
Salem Nein, ich habe noch keine getroffen! Ich glaube die sind woanders!
Jens Suchst Du Dir Dein Leben aus?
Salem Nein! Für uns Tiere gibt es nur eine Richtung, nämlich die nach vorn. Wir bewegen uns von Leben zu Leben und lernen dabei, genau wir Ihr als Menschen auch. Aber wir haben keine Verantwortung dabei! Es gibt keine Fragen, ob wir für unser Schicksal verantwortlich seien. Das interessiert uns nicht! Für uns ist das Leben eher wie eine Spielwiese und ich freue mich jetzt schon auf das nächste Leben!
Jens Gilt das für alle Tiere?
Salem Nein, nicht für alle, aber für die meisten.
Jens Sind das alles Wesen, die keine Menschen sein wollen?
Salem Ja, ich habe schon viele kennengelernt, die so denken.
Jens Wirst Du Deine Familie nochmal besuchen?
Salem Nein, ich habe keinen Bezug und keine Verbindung zu ihnen. Bei ihnen bin ich gestartet, sonst nichts.
Jens Wie war das in den Tagen nachdem Claudis Mama gestorben war. Hast Du ihren Geist bei uns gesehen?
Salem Nein, ich habe sie nicht gesehen, aber ich wusste, dass sie da war. Es hat mich weder gestört noch in mir Angst ausgelöst. Es hat mich nicht beschäftigt.
Jens Was ist mit dem anderen Geist, der aufgetaucht ist?
Salem Auch ihn habe ich nicht gesehen. Ich wusste aber, dass etwas nicht stimmt und etwas da war, was da nicht hingehörte. Ich habe es versucht zu meiden.
Wir Katzen haben keinen solchen Bezug zum Sehen wie ihr. Wir spüren, dass etwas nicht stimmt. Wir haben kein Interesse daran, das auch noch zu sehen!
Jens Hatte dieses Wesen etwas mit Dir oder uns zu tun? War es vielleicht sogar Willi?
Salem Aus heutiger Sicht: „Nein!“, es hatte nichts mit uns zu tun! Damals habe ich mich mit dieser Frage nicht befasst.
Jens Wie hast Du uns damals gesehen?
Salem Ich war extrem verwirrt und konnte die Veränderungen nicht einordnen. Das hat mir viel Stress bereitet und mein Gleichgewicht durcheinandergebracht.
Jens Bist Du deshalb krank geworden?
Salem Ja! Aber es ist nicht Eure schuld! Nur ihr als Menschen habt die Fähigkeit des Verstehens und Einordnens von Veränderungen. Ich als Katze habe diese nicht.
Salem Diese Phase war für mich so – Du würdest es in Deiner Welt wohl als Zeichen bezeichnen. Ich wusste, dass es nun meinem Ende entgegen gehen wird.
Jens Wäre es anders gekommen, wenn wir uns anders verhalten hätten?
Salem Ich glaube der Zeitpunkt stand fest. Der Stress führte zwar zu meiner Erkrankung, aber ihr habt darauf wiederum reagiert und vieles verändert, was mich wieder stützte. Ohne meine Erkrankung wäre mein Gleichgewicht länger geblieben, aber mein Körper wäre auch unbemerkt stärker belastet worden. Mein Tod wäre für alle nur überraschender gekommen, aber nicht zu einem anderen Zeitpunkt!
Jens Wieso haben Katzen solche Angst vor dem „Wegfahren“?
Salem Wir beschäftigen uns nicht mit Dingen, die außerhalb unserer Welt liegen. Wenn wir plötzlich aus der gewohnten Umgebung gerissen werden und Ihr mit uns nach draußen geht, dann ist das eine völlig unbekannte Welt. Wir haben keinen Bezug dazu und auch keine Vorstellung davon. Es ist vielleicht vergleichbar mit dem Nichts. Das ist aber das Los was man zieht, wenn man Katze wird.
Jens Kann man denn da etwas tun?
Salem Ja, indem Ihr Euch so bewegt, wie es eine Katze in der Natur auch tut. Schritt für Schritt.
Jens Würde es Dich stören, wenn wir uns irgendwann eine neue Katze anschaffen?
Salem Nein, natürlich nicht!
Jens Hast Du einen Tipp?
Salem Wenn Ihr Euch eine neue Katze sucht, schaut nicht nach dem Äußeren sondern achtet auf die Augen!
Jens Wärest Du wie Lissi erblindet, wie wäre das für Dich gewesen?
Salem Für uns sind solche Veränderungen eher wie Spielzeuge. Blindheit wäre für mich kein Problem gewesen. Jede Reise aus der Wohnung heraus wäre viel schlimmer!
Jens Hat Dir die Natur nicht gefehlt?
Salem Es ist für Euch schwer zu verstehen, aber ich genieße die Stille und das Alleinsein!
Jens Hat das Radio trotzdem geholfen?
Salem Das war lieb gemeint, aber völlig daneben. (Er lächelt dabei)
Jens Wieso hast Du trotzdem häufig genau in dem Zimmer gelegen?
Salem Wegen des Platzes und weil es schön kühl war! Das Radio hat nur genervt!
Jens Hast Du einen Rat an uns?
Salem Versucht das Leben etwas spielerischer anzugehen. Die Last entsteht, weil ihr alles miteinander verbindet.
Jens Wieso hast Du manchmal geschnauft? Warst Du tatsächlich frustriert?
Salem Ja, das Schnaufen kam von meinem Frust. Allerdings weniger in Bezug auf die Außenwelt. Häufiger war es Frustration über meinen Zustand und die Beschränkungen, die plötzlich hinzukamen.
Jens Was denkst Du über die Urne, die wir behalten wollen? Findest Du das albern?
Salem Keineswegs. Ich sehe dies als Zeichen Eurer Wertschätzung an und freue mich darüber.
Jens Warum konnte ich nicht mit Dir reden, als Du noch lebtest? Ich habe es häufiger versucht, aber irgendwie schienst Du mich nicht zu verstehen?
Salem Das war nicht möglich. Solange ich eine Katze bin, kann ich auch nur tun, was eine Katze tun kann und auch nur verstehen, was eine Katze versteht.